„Klatsch“ und „Gespräch“ (gefunden in „Anna Karenina“).
Man muss sich nicht wundern, wenn man in einem Buch wie „Anna Karenina“ ausgerechnet diese beiden Wörter sticht. Es ist eben der „größte Gesellschaftsroman der Weltliteratur“ (Thomas Mann). Nun sollte man meinen, für das Funktionieren einer Gesellschaft sei das Gespräch konstitutiv, wogegen dessen missratene Schwester, der Klatsch, nur alles wieder zerstört. Aber so ist es gerade nicht, jedenfalls nicht in der Gesellschaft des russischen Adels (die mit derjenigen des anatolischen oder auch des schwäbischen Hochlands offenbar Gemeinsamkeiten hat); im Klatsch versichert sie sich ihrer Sitten, also des Zements, der sie zusammenhält. Und diese Sitten sind gnadenlos: Anna wird ausgestoßen, weil sie ihren lieblosen, aber bedeutenden Mann zugunsten eines Hallodris verlassen hat; einem ungeschriebenen Gesetz folgend, bringt sie sich um; und es gehört zu den starken Bildern dieses Buchs, dass sie sich vor einen Eisenbahnzug wirft, das Symbol der neuen, mechanischen Zeit, in der die Adelshäuser nicht nur untergehen, sondern zermalmt werden. Heute ist es friedlicher; es gelten geschriebene Gesetze, und die Wiener Öffentlichen Verkehrsbetriebe werben für sich mit einem Bild zweier distinguierter Damen im Kaffeehaus, deren eine der anderen listig zuflüstert: „No, im Bus hob i’s g’hert!“ [1]
Geschrieben im Juli 2017.
[1] Werbung der Wiener Linien im Winter 2004/05.