„Berggipfel“ und „Bibliotheken“ (gefunden in der FAZ vom 1.6.2017)

 

Im Jahr 1336 bestieg Francesco Petrarca den Mont Ventoux, einen fast 2000 Meter hohen, den Alpen vorgelagerten Berg in der Provence. Es war die erste aller Erstbesteigungen; vor allem aber gilt Petrarca als der erste Autor nach der Antike, der in der Natur nicht das Schreckliche, sondern das Schöne und das Überwältigende gesucht und gefunden hat; seitdem, so kann man etwa in Wikipedia lesen, ist die Natur nicht mehr nur die hässliche Durchgangsstation auf dem Weg zum Paradies, sondern sie hat „eine eigene Wertigkeit“ bekommen. Sicher ist das übertrieben, auch vor Petrarca haben Menschen die Natur geliebt; die gotischen Kathedralen sind nichts anderes als eine Verherrlichung der gotterfüllten Welt[1], und auch die Troubadoure haben großartige Worte für die Schönheiten der Natur gefunden. Aber Petrarca hat verstanden, wie er seine Entdeckung – und also sich selbst – in Szene setzen muss: nämlich indem er in seine Bibliothek geht und eine antike Autorität zitiert, am besten gleich den heiligen Augustinus, der in seinen „Bekenntnissen“ schreibt: „Da gehn die Menschen hin, und staunend sehn sie nach den Berggipfeln, dem Meeresfluten ohne Grenzen, dem breiten Strom gewaltger Flüsse“[2] usw. Petrarcas Leistung bestand also nicht darin, die Natur, sondern darin, diese Stelle bei Augustinus entdeckt zu haben. Es ging nicht darum zu sehen, sondern zu lesen. Denn alles Wissen, so dachte man, ist schon aufgeschrieben. Hätte er dies nicht zitiert, niemand hätte ihn ernst genommen. Petrarca musste seine Originalität kaschieren, damit sie wirkt. Heute ist es umgekehrt, Guttenberg kaschierte seine Quellen. Freilich ist auch der Mont Ventoux nicht mehr das, was er einmal war; verschwitzt auf seinem Gipfel angelangt, trifft man auf ein Restaurant und eine Radiostation von einer solchen Beton-Häßlichkeit, dass nur noch eines bleibt – nichts wie weg!

 

 

 

 

 

 

 

[1] Georges Duby, Die Zeit der Kathedralen, Frankfurt am Main 1980.

[2] Augustinus, Bekenntnisse X, 8, in der Übertragung von Hermann Hefele.